Geschichte der Passionsspiele von Thiersee
In dem Landstrich zwischen dem Tiroler Pendling bei Kufstein und dem bayerischen Petersberg bei Flintsbach am Inn wurden seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Passionsspiele aufgeführt. In den alten Grenzen des früheren Bistums Freising, das auf Tiroler Gebiet bis zum Jahre 1818 westlich des Inns bis zum Achensee reichte, gab es in jener Zeit wohl keine Stadt, keinen Marktflecken und keine große Dorfkirche, wo in den Wochen zwischen dem Passionssonntag und Ostern nicht das Leiden, das Sterben und die Auferstehung Jesu Christi dargestellt wurde. Diese Aufführungen in den Tagen der Fastenzeit waren damals Teil des aktiven Lebens im Kirchenjahr.
Die Anfänge der Passionsspiele in Thiersee dürften nach einer historischen Bewertung bis in die Zeit um das Jahr 1695 zurückreichen. Das Thierseetal gehörte seit dem Jahre 739 kirchlich zum Bistum Freising. Das Gebiet der Gemeinde Thiersee war pfarreimäßig zweigeteilt: ein kleiner Teil gehörte zur Urpfarrei Flintsbach am Inn in Bayern und der größere Teil zur Urpfarrei Langkampfen in Tirol. Erst im Mai 1818 wechselte Thiersee dann endgültig zum Erzbistum Salzburg.
Zum Ende des 18. Jahrhunderts übernahmen in harter Notzeit die Bauern von Thiersee durch ein feierliches Gelöbnis die Verpflichtung zur Aufführung des Passionsspieles. Und Generation auf Generation hielt an diesem Versprechen fest. Das Spiel hatte im Laufe der Jahrzehnte manche Wandlung erfahren. Gleichgeblieben war stets die Liebe und Hingabe der Thierseer an ihr Spiel, das getragen wurde von tiefer Gläubigkeit und echter Gottesliebe.
Das Spielarchiv der Passionsspielgemeinde Thiersee ist das größte und bedeutendste seiner Art in Tirol. Der Nachwelt sind über 60 Handschriften, Uralttextbücher, Fragmente von Spieltexten und Urkunden aus der Zeit des 18. und 19. Jahrhunderts erhalten. Die Archivalien aus der Provenienz der Passionsspielgemeinde Thiersee reichen bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück.
Zum Spieljahr 1875 erschien in der Buchdruckerei von Eduard Lippott in Kufstein das Büchlein „Das große Versöhnungsopfer auf Golgotha“, welches „die Handlungen der Reihenfolge und den Text der Gesänge genau enthält und zu geringem Preis an der Cassa zu haben“ war. Dieses 24seitige Libretto ist das älteste Druckwerk der früheren Passionsspielgesellschaft von Vorderthiersee. Das einzig erhaltene Exemplar befindet sich in der Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek in München.
Zum Spieljahr 1885 erschien das erste gedruckte Textbuch „Das Passionsspiel von Vorderthiersee in Tirol“ in der k.k. Hof- und Universitätsbuchhandlung von Alfred Hölder in Wien. Dieser Band mit einem Vorwort und dem Spieltext von Pater Robert Weissenhofer umfasst insgesamt 162 Seiten, erschien in mehreren Auflagen und ist in fast allen großen Bibliotheken des deutschen Sprachraumes zu finden.
Und im Dezember 1895 brachte die US-amerikanische Zeitschrift „The Century Magazine“ den ersten illustrierten 14seitigen Artikel „The Passion-Play at Vorder-Thiersee“ von Annie S. Peck mit neun Bildern von Louis Loeb. Diese Monatszeitschrift für Literatur und Politik erschien damals in New York.
Die ältesten Filmdokumente sind die beiden Beiträge in den Kinowochenschauen von Österreich in Bild und Ton in den Ausgaben vom 26. Juli 1935 „Tirol: Die Passionsspiele in Thiersee“ und vom 26. Juni 1936 „Thiersee: 600 Jahre Passionsspiel in Tirol“. Im August 1937 wurde ein Film der Österreichischen Verkehrswerbung über die Passionsspiele in Thiersee gedreht. Am 6. Juni 1936 wurde das Passionsspiel live im damaligen Rundfunk RAVAG über alle österreichischen Sender übertragen, das war zugleich die erste Direktübertragung im Hörfunk aus Thiersee.
Die ersten öffentlichen Passionsspiele wurden auf einer Sommerbühne unterhalb der Kirche Sankt Margareth in Vorderthiersee zur Aufführung gebracht. Das erste gedeckte Passionstheater wurde zum Spieljahr 1855 auf dem Kramerfeld oberhalb dieser Dorfkirche errichtet. Und bereits 1855 berichteten Zeitungen aus Innsbruck, Salzburg, München, Augsburg, Landshut und Aschaffenburg über die Passionsspiele in Vorderthiersee.
Durch die Eröffnung der Bahnlinie Rosenheim-Kufstein-Innsbruck im Jahre 1858 strömten in den folgenden Spieljahren zwischen 1865 und 1905 Zehntausende Besucher nach Thiersee. Menschen aus allen Schichten des Volkes, aus allen Ständen des Klerus, aus Nah und Fern fanden zu den Passionsspielen nach Thiersee. Aus dem lokalen und regionalen „Passion“ wurde ein überregionales und internationales Ereignis weit über die Grenzen des deutschen Sprachraums hinaus.
Im Jahre 1926 wurde am Ufer des Thiersee das heutige Passionsspielhaus errichtet. In der Zwischenkriegszeit der 20er und 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts avancierte Thiersee zu einem westösterreichischen Theaterzentrum. In der Zeit des Nationalsozialismus kam es zum vorläufigen Aus für die Spiele in Thiersee. Zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges konnte im Jahre 1955 diese Tradition wieder erfolgreich aufgenommen werden.
Für das Spieljahr 2022 hat der aus Südtirol stammende Theaterautor Toni Bernhart einen neuen Spieltext geschrieben und der Kapellmeister Josef Pirchmoser aus Kiefersfelden eine neue Passionsmusik komponiert. Der Innsbrucker Norbert Mladek führte die Regie. Die nächsten Passionsspiele in Thiersee sind für das Jahr 2028 geplant.