Autor Toni Bernhart

Seit über 200 Jahren spielt man in Thiersee die Geschichte vom Leben und Sterben Christi. Eine Neuinszenierung der Passion soll den Leidensweg Jesu im Passionsspieljahr 2022 zeitgemäß zeigen – mit einer neuen Textfassung von Toni Bernhart.

Toni Bernhart, geboren in Meran, hat in Wien Germanistik und Theaterwissenschaft studiert und lebt seit über zwanzig Jahren in Berlin. Neben seiner Arbeit als Dozent für Literaturwissenschaft an der Universität Stuttgart ist er als freiberuflicher Schriftsteller tätig. Im Gespräch erzählt er, welche Bedeutung diese Aufgabe in Thiersee für ihn hat und welche Neuheiten die Besucherinnen und Besucher auf der Bühne erwarten.

Was fasziniert Sie am Schreiben?

Alles, was mit Sprache zu tun hat, hat mich von klein auf fasziniert. Das beginnt mit dem Sprechen und schließt das Erzählen und Zuhören ein. Schreiben ist für mich die Gestaltung von Wirklichkeit.

Die Thierseerinnen und Thierseer haben sich dazu entschieden, einen neuen Text für die Passionsspiele zu beauftragen. Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Ihnen?

Im Frühjahr 2020 hat mich der Regisseur Norbert Mladek angerufen und mich gefragt, ob ich für Thiersee ein neues Passionsspiel schreiben möchte. Diese Anfrage war für mich so einzigartig und ehrend, dass ich sofort zugesagt habe. Im Anschluss gab es ausführliche Gespräche mit dem Passionsspielverein Thiersee, der letztendlich die Entscheidung getroffen hat und damit Weichen für die Zukunft stellt. Entsprechend groß ist die Verantwortung, die mir damit übertragen wurde. Da kann einem schon ein wenig die Luft wegbleiben, fast so, als ob man an der Kante des Hausberges Pendling steht und ins Inntal hinunterschaut (lacht).

Von wem stammt der bisherige Text?

Der bisherige Text, der von 1921 bis 2016 gespielt wurde, stammt von Jakob Reimer. Reimer, der aus dem oberösterreichischen Dorf Mauerkirchen stammte und von 1877 bis 1958 gelebt hat, war Benediktinermönch und Erzabt von St. Peter in Salzburg. Sein Text hat ein Jahrhundert lang gehalten. Mehrere Generationen von Thierseerinnen und Thierseern haben mit Reimers Passionsspiel gelebt, es gespielt und auf der Bühne gesehen. Seine Fassung wurde zur vertrauten Selbstverständlichkeit, von der man sich nicht von heute auf morgen verabschieden mag. Aber auch Reimers Text war einmal „der Neue“, der einen alten Text abgelöst hat.

Warum hat sich der Passionsspielverein dazu entschieden, den Text zu erneuern?

Jeder Text ist in der Zeit verhaftet, in der er geschrieben wird. Zeitlose Texte gibt es nicht. Erst recht nicht, wenn es sich um Gebrauchstexte wie Passionsspiele handelt. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr kann sich der Eindruck verfestigen, dass ein Text aus der Zeit fällt. Für eine Weile können Überarbeitungen helfen, einen Text passfähig zu halten. Aber irgendwann ist er mit den formalen, ästhetischen und moralischen Erwartungen und Vorstellungen der Ausführenden und des Publikums nicht mehr in Einklang zu bringen. An diesen Punkt ist das alte Passionsspiel von Jakob Reimer gelangt. Das Bedürfnis, einen neuen Text zu haben, wurde immer stärker und hat schlussendlich zur Entscheidung des Passionsspielvereins Thiersee geführt, den alten Text durch einen neuen abzulösen.

Passionsspiele haben in der Theatergeschichte Europas eine lange Tradition, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Was ist das Besondere an den Passionsspielen in Thiersee?

Das Besondere in Thiersee ist der See. Einen Hausberg, der Teil des Bühnenraums ist, hat auch Oberammergau. Ein eigenes Haus, in dem die Passion gespielt wird, hat auch Erl. Aber nirgendwo sonst gibt es einen See, der so eng mit dem Ort und seinem Passionsspiel verbunden ist. In einigen Punkten ist Thiersee anderen Passionsspielorten ähnlich. Die Gründung von Passionsspielen wird meist durch ein Gelübde erklärt und soll Seuchen, Kriege oder Katastrophen abwenden. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen das Leben und Sterben und die Auferstehung Jesu in christlicher Deutung. Passionsspiele brauchen große Gruppen, oft ganze Dörfer, um sie aufzuführen. Sie finden wiederkehrend im Abstand von einigen Jahren statt und werden dann über einen langen Zeitraum gespielt, in Thiersee von Juni bis Oktober. Typisch für Passionsspiele ist auch, dass sie lange den gleichen Spieltext verwenden, oft hundert Jahre oder länger.

Wie sind Sie beim Verfassen des neuen Passionsspiels vorgegangen?

Ich bin mehrere Wege gleichzeitig gegangen. Ganz wichtig sind die Quellen, die die Passionsgeschichte erzählen. In diesen Texten habe ich oft und immer wieder gelesen. Damit die Passion von Anfang an als gemeinsamer Guss angelegt war, habe ich mich regelmäßig mit dem Komponisten Josef Pirchmoser, dem Regisseur Norbert Mladek, dem früheren Obmann Johann Kröll, dem neuen Obmann Michael Juffinger und dem Vorstand des Passionsspielvereins abgestimmt. Daneben hatte ich großartige Gesprächspartnerinnen und -partner aus Theologie und Bibelwissenschaft, aber auch aus der Liturgie und der Theaterpraxis, mit denen ich mich regelmäßig ausgetauscht habe. Besonders inspirierend waren für mich die vielen Gespräche mit dem Berliner Theologen Jens Schröter, mit der Salzburger Theologin Marlis Gielen und mit Karolina Primisser, einer jungen Theologin aus Innsbruck. Die Hauptarbeit war das Schreiben am Text, den ich immer wieder neu geordnet, ergänzt und überarbeitet habe, bis ich damit zufrieden war.

Wie lange hat das gedauert?

Von der ersten Zeile bis zur letzten Fassung sind anderthalb Jahre vergangen. Ein Passionsspiel zu schreiben, ist schon sehr raumgreifend und nimmt Einfluss – auch auf das eigene Leben. Ein Text auf der Bühne muss vor allem sprechbar sein. Es geht weniger um die Frage, ob die Sätze schön formuliert sind, sondern eher darum, wie sie klingen, wenn man sie spielt und spricht.

Welche Quellen waren für den Schreibprozess besonders wichtig?

Am wichtigsten waren die Evangelien, die die Passionsgeschichte Jesu erzählen. Sie finden sich im Neuen Testament in der Bibel, aber auch in den apokryphen Schriften. Das sind Evangelien, die einzelne Aspekte des Neuen Testaments erweitern oder weiterführen. Sie spielen in der christlichen Tradition, vor allem für die Passionsgeschichte, eine sehr große Rolle, auch wenn sie nicht Eingang in die Bibel gefunden haben. Aus den apokryphen Evangelien habe ich Ergänzungen übernommen, die die Handlung anreichern und neue, manchmal ungewohnte und überraschende Sichtweisen auf das Leben Jesu eröffnen.

Gibt es Ähnlichkeiten zwischen Ihrer Passion und der alten Fassung von Jakob Reimer, die bisher gespielt wurde?

Als Grundlage verwende ich vor allem die vier Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Nun erzählen diese vier Evangelien die Passion Jesu jeweils ein wenig anders, weil die Texte unterschiedlich alt sind und von verschiedenen Verfassern stammen. Im Kern aber ist die Geschichte die gleiche: Jesus tritt als Erneuerer religiöser und sozialer Belange auf, er wird dafür gefeiert und auch angefeindet, am Ende wird er gekreuzigt, getötet und begraben. So genommen ist es eine traurige Geschichte. Doch nach dem Karfreitag kommen die Auferstehung und Ostern. Im großen Bogen nimmt das Christentum ein Happy End, das in die Auferstehung aller Menschen mündet und im Himmel endet. Es erzählt von Hoffnung, Rettung und gutem Ende. Auch Jakob Reimer hat sein Passionsspiel so angelegt: Es beginnt mit der Schöpfung im Paradies und endet mit der Apokalypse und der Auferstehung. In diesen großen biblischen Bogen hat Reimer das Leben und Leiden Jesu eingebettet. So ähnlich habe auch ich meinen Text angelegt: Ich beginne mit dem jungen Jesuskind, stelle das Leben und Wirken Jesu dar, dann seinen Tod, auf den Auferstehung und Himmelfahrt folgen. Jesus ist Kind, Jesus ist Mann und zuletzt ist er der Auferstandene. Das hat mich dazu veranlasst, Jesus auf drei Rollen aufzuteilen. Also wird es drei Jesus-Darsteller geben. Das wird für das Publikum eine Überraschung sein. In Thiersee gibt es zudem die alte Tradition, dass der Teufel auftritt. Diese Rolle ist natürlich auch im neuen Text vorhanden. Es wird auch nicht nur einen, sondern zwei Teufel geben.

Die Handlung der Passionsspiele ist weitgehend vorgegeben. Wie finden Sie in dieser Geschichte Raum für Ihre künstlerische Freiheit?

Als Theaterautor muss ich entscheiden, was genau die Personen im Passionsspiel sagen. Denn aus den direkten Reden in den Bibeltexten allein lassen sich keine zusammenhängenden Szenen entwickeln. Also muss vieles ergänzt und neu geordnet werden. So gesehen ist der künstlerische Spielraum sehr groß. Dann kommt noch dazu, dass allein die vier Evangelien des Neuen Testaments so viel Stoff und Inhalt bieten, dass man gar nicht anders kann, als sich für eine kleine Auswahl aus der großen Fülle der Möglichkeiten zu entscheiden.

Wie kann man eine Passion generell zeitgemäß erzählen und sozusagen eine alte Geschichte in der modernen Welt wiederauferstehen lassen?

Dazu muss ich als Autor nicht viel tun. Der Platz der Passion in der Gegenwart entsteht von selbst. Schon allein dadurch, dass ich die Passionsgeschichte heute und hier erzähle, wird sie in die Gegenwart gestellt. Das war auch im Verlauf der vergangenen zwei Jahrtausende nicht anders. Der Sinn und die Bezüge zum Hier und Jetzt entstehen durch die Inszenierung, durch die schauspielerische Darstellung, die Musik und durch Thiersee als Spielort. Am deutlichsten und stärksten aber entstehen Bedeutung und Sinn in den Köpfen und Empfindungen der Besucherinnen und Besucher. Als Theaterautor ist es mir deshalb wichtig, eine möglichst vielschichtige Textgrundlage anzubieten, die viel Gestaltungsspielraum auf der Bühne und viel Deutungsspielraum für das Publikum lässt. Das ist die Voraussetzung, dass der Text lange attraktiv bleibt und lange gespielt werden kann. Wer weiß, ob meine Fassung nicht auch hundert Jahre lang auf der Thierseer Passionsbühne bleibt, wie das alte Spiel von Jakob Reimer?

Stücke

  • Thierseer Passion – Passionsspiele Thiersee 2022
  • Aeneis – Innsbruck 2016
  • Rita – Prad am Stilfserjoch (Südtirol) 2014
  • Gschmugglt weart nicht mea – Stilfs (Südtirol) 2011
  • Liebeskontor – München 2008
  • Mischa, der Fall – Mersch und Ettelbrück (Luxemburg) 2008
  • Martinisommer – Wien, Innsbruck und Meran 2006
  • Monolog eines Reiseführers zu Lasten des Busfahrers – Schwaz 2003
  • Langes afn Zirblhouf – Schlanders (Südtirol) und Innsbruck 2002
  • Lasamarmo – Brixen, Wien und Esch-sur-Alzette (Luxemburg) 1999

Die meisten der Stücke werden vertreten durch den Bühnenverlag Kaiser, Wien